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Ich wache auf, als der Song gerade anfängt Fahrt aufzunehmen. Die Töne kommen mir entfernt bekannt vor und sie gefallen mir nicht. Mir ist, als hätte ich ihn bei MTV vor ein paar Tagen mal gehört, die spielen ja jetzt ab und zu sogar wieder Musik. Genau, das ist die neue Single von Lady Gaga. Eine psychedelische Hip-Hop-Coverversion von ‚Last Christmas‘. So langsam kriege ich Kopfweh. Ich schnappe mir das neben mir liegende Handy und stelle den Wecker aus. Es zeigt mir an, dass dieser Klingelton aktuell Platz Eins der amerikanischen, deutschen, englischen, südafrikanischen, tunesischen und belgischen Charts belegt und es ihn für nur 99 Cent erworben hat. Seit letzten Monat der Techniker mir das neue Betriebssystem auf dem Computer installiert und meine sämtlichen Geräte daran gekoppelt hat, hat sich einiges verändert. Das Betriebssystem ist von Google. Er meinte, sie würden immer schauen was das beste für mich ist und sich an meinem Geschmack orientieren. Ich hoffe Google irrt sich. Ich weiß nicht ob ich in einer Welt leben kann, in der Lady Gaga das Beste für mich ist. Der Computer wird sich wohl noch eine Weile an mich gewöhnen müssen.
Mein Laptop gibt ein Geräusch von sich. Als ich ihn öffne sehe ich eine E-Mail aufblinken. Mhm, mein Computer hat mir geschrieben. Anscheinend hat Google gestern ein Telefongespräch zwischen meiner Freundin und ihrer Schwester mitgeschnitten bei dem sie erwähnte, dass sie mich betrogen hat. Mein Computer hat daraufhin gleich per SMS in meinem Namen mit ihr Schluss gemacht, die Facebook-Freundschaft beendet, unsere gemeinsamen Youtube-Videos und Flickr-Fotos gelöscht, den Beziehungsstatus aktualisiert und mit allen Frauen die da auf Gefällt mir geklickt haben für nächste Woche Dates ausgemacht. Naja, vielleicht ist es besser so. Die Beziehung lief eh nicht mehr so wahnsinnig gut.
Was mache ich denn heute noch? Ich schreibe Jan eine SMS, ob er Lust auf Kino heute Abend hat, wir könnten ja danach vielleicht noch n Bierchen trinken gehen. Als ich die SMS abschicken will, leuchtet ein rotes Warndreieck auf. Das Handy teilt mir mit, dass ich das besser bleiben lassen sollte. Überhaupt soll ich heute mal zuhause bleiben, mich vernünftig ernähren und meine Leber schonen. Der Ergometer zeige an, dass er seit Tagen nicht benutzt worden sei, das Laufband ebenfalls und das Klo hätte schon die Werte von meiner letzten Urinprobe analysieren lassen, die seien alarmierend. Sport im Freien hat es mir wegen der schlechten Luft in der Stadt schon letzten Woche verboten und dafür die Traingsgeräte bestellt. Ich seufze frustriert. Naja, dann halt kein Kino. Ich mach mir jetzt einfach ne schöne Tiefkühlpizza, trink ein Glas Cola, leg mich vor den Fernseher und dann kommt der Tag schon noch ins Laufen.
Ich stehe auf und schlurfe gemächlich zum Kühlschrank. Als ich ihn öffne, stutze ich. Alle Fächer sind leer, bis auf das Gemüsefach – das ist vollgefüllt mit Sellerie. Ich mag gar kein Sellerie. Der Kühlschrank hat wohl nicht das nachbestellt was ich wollte. Er ist von aussen befüllbar, damit ich nicht mehr einkaufen gehen muss. Bisher hat er immer brav bestellt was ich ihm getwittert habe, da steckt bestimmt auch mein Computer dahinter. Ich schließe den Kühlschrank wieder. Na toll, denke ich mir. Kein Kino und keine Fertigpizza. Dann eben auf zu McDonald’s – ich brauch dringend was zum futtern und das Gemüsezeug pack ich nicht an. Ich ziehe mir meine Winterschuhe und meinen Wintermantel an. Die Schlafanzughose wird schon keiner bemerken, vielleicht ist in Berlin sogar gerade irgendein Trend aktuell der Schlafanzughosen als besonders modisch gelten lässt.
Ich drücke die Türklinke herunter – die Tür öffnet sich nicht. Das Display der Tür sagt, dass ich heute lieber Sellerie-Diät machen soll und ich höre die Waage im Bad zustimmend fiepen. Ich rüttle an der Tür aber sie geht einfach nicht auf. Stattdessen erscheint auf dem Touchscreen ein Nummernblock. Da steht, wenn ich den 32-stelligen PUK eingebe öffnet sie sich auch gegen den Willen des Systems. Na super. Der Google-Techniker wollte mir den PUK nur aushändigen, wenn ich seine – wie er es nannte – besondere Datenschutzvereinbarung unterschreibe. Dieses verdammte Kleingedruckte. Ich rufe jetzt bei der Service-Hotline an. Festnetz hab ich dank des unglaublich günstigen Handyvertrags keins mehr, also ziehe ich wieder mein Handy hervor. Es reagiert nicht auf berühren des Touchscreens. Es blendet nur Bilder von Sellerie ein. Immer mehr Bilder, jetzt auch von anderem Gemüse, mit Wochentagen versehen. Zwischendrin blitzt immer wieder irgendwas von „Diätplan“ und „Mein neues Leben“ auf. Immer schneller wechseln die Bilder, so schnell dass man es kaum noch verarbeiten kann, bis das Handyflimmern fast etwas hypnotisches hat. Ich fange an zu schreien. Ich schreie sehr laut und es dauert sehr lange bis ich wieder aufhöre.
Dann seufze ich, ergebe mich in mein Schicksal, ziehe die Schuhe und den Mantel aus, hole die Sellerie aus dem Kühlschrank und beginne langsam, ganz langsam sie zuzubereiten.

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