Hinter verschlossenen Türen (1)

Einen wunderschönen guten Abend,

ich habe mit einer neuen Erzählung angefangen, die die Fortsetzung von „Dem Ende entgegen“ bildet. Die Kapitel sollen in Abständen von ungefähr zwei Wochen erscheinen. Ich hoffe sie wird euch gefallen, über Resonanz jedweder Art freue ich mich wie immer sehr!

Fühlt euch herzlich gegrüßt,

Arno / Larry

Hinter verschlossenen Türen – PDF

1.  Kapitel

Ist es nicht seltsam, wenn eine Geschichte ihren Anfang an einer Tür nimmt? Auf den Stufen davor, ja, oder im Haus, das kann man erwarten. Gerade Häuser können so viele Geschichten erzählen. Davon, wer sie einst bewohnt hat und welche Narben sie davon getragen haben. Wie die Zeit sie verändert hat. Aber was gibt es schon groß über eine Tür zu sagen? Die, um die es hier geht, war eine sehr schlichte, nicht allzu auffällige Tür. Braunes Fichtenholz, das vor Jahrzehnten, als es noch neu und gepflegt gewesen war, bestimmt einen guten Eindruck auf den Beobachter hinterlassen hatte. Dazu ein kleiner, schnörkelloser Griff, dessen einstiges Strahlen mit den Jahren zu einem matten, abgegriffenen, silbernen Schimmer verkommenen war. Alles in allem wirkte die Tür wie viele andere in der Stadt. Alt und nicht gut geschützt. Doch bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dass dieser Schein trog. Die Tür, an der unsere Geschichte beginnt, barg ein paar Besonderheiten. Nicht in ihrer Form oder dem Material. Nicht in dem elektrischen Schutzschild, der Unbefugten den Durchgang verweigerte. Auch nicht in ihrem Schloss – all das war im weitesten Sinne gewöhnlich. Besonders war das Haus, zu dem sie den Zugang regelte und die Menschen, die sie passierten. Ungewöhnlich ist ein gutes Wort um die meisten der Menschen zu klassifizieren, die durch sie hindurchgingen. Diese Menschen mochten Namen wie Lisa-Marie Wagner, Max Schneider oder Peter Neuer tragen, ganz normale Namen also. Aber ganz egal was man ihnen bei ihrer Geburt in die Geburtsurkunde geschrieben hatte und wie sie sich heute nannten, sie waren alles andere als normal. Sie waren Abschaum. Der Bodensatz der Gesellschaft. Viele von ihnen waren reich, manche durchaus angesehen, doch wenn sie durch diese Tür gingen, wurden sie unabhängig von ihrem Stand und ihrem Konto unweigerlich dem Bodensatz zugeordnet.
Man behauptet hin und wieder, Menschen würden ein Buch nach seinem Umschlag beurteilen. Das ist nicht mehr als ein Bruchteil der Wahrheit. Von entscheidender Bedeutung ist der Standort des Buches. Liegt es in einer großen, gut beleuchteten Buchhandlung für jeden gut sichtbar auf dem Bestsellertisch aus oder in der hintersten Ecke eines kleinen, verstaubten Antiquariats? In einer Kiste auf dem Flohmarkt oder durchnässt und achtlos weggeworfen am Straßenrand? So ähnlich verhielt es sich auch mit den Menschen, deren Schicksal sich hier im Haus abspielte.
Begegnete man einem von ihnen auf der Straße, ging man in den meisten Fällen weiter, ohne sich umzusehen. Wer erkennt schon einen Wahnsinnigen, der einen Anzug trägt, frisch rasiert ist und besonnen lächelt? Wer würde schon einen gesunden Geist erkennen, wenn der Mensch dazu sich die Haare rauft und schreiend und mit irrem Blick, nur mit einer Unterhose bekleidet, durch die Stadt rennt? Egal wie gut seine Gründe dafür sein mögen.
Doch wenn Menschen durch diese Tür in das Haus dahinter gingen, die Arme im unnachgiebigen Griff eines humanoiden Roboters in Uniform, manche sogar extra auf eine Bahre geschnallt, dann gab es keine Fragen mehr. Kein Interesse an ihrer Persönlichkeit und ihren inneren Werten. Sie wurden Ausgestoßene, über die man möglichst nicht sprach und für deren Befinden sich niemand interessierte. Wenige Verbrechen waren schlimm genug, um einen Menschen direkt hier landen zu lassen. Die meisten Delikte, bei denen man ertappt wurde, brachten nur eine Kürzung der allmonatlichen Rente, die heutzutage jedermann ein Leben lang erhielt. Erst, wenn man dreimal mit einem kleineren Verbrechen in Verbindung gebracht werden konnte, musste man durch die Tür treten und kam hoffentlich geläutert und gesetzestreu wieder heraus. Jede weitere Gesetzesübertretung brachte einem einen lebenslangen Aufenthalt. Gehen sie nicht über Los. Ziehen sie nie wieder auch nur einen einzigen Euro ein.
Für Mord, Vergewaltigung und andere Verbrechen solchen Ausmaßes konnte man sich auch beim ersten Versuch schon auf einen langen Urlaub ohne Wiederkehr hinter dieser Tür einrichten.
Jeder Insasse hatte einen zuständigen Roboter, denjenigen, der ihn verhaftet hatte. Dieser führte ihn in das Haus und in die Zelle, deren transparente, aus einem elektrischen Feld bestehende Wand sich hinter dem Gefangenen materialisierte. Transparent, so dass der Gefangene von nun an all diejenigen sehen konnte, die nach ihm in den Zellenblock gebracht wurden. Der Roboter kümmerte sich darum, dass die Zelle sauber war, er brachte dem Gefangenen das Essen und beantwortete einfache Fragen. Wieviel Uhr ist es? Welcher Tag ist heute? Nichts, was den Gefangenen oder das Gefängnis betraf. Der Roboter fuhr munter durch die durchsichtige Zellentür und jeder Neuankömmling probierte mindestens einmal, ihm zu folgen. Jüngere Männer verspürten nur einen starken Stromschlag, wohingegen es bei älteren Männern und Frauen oft bis zur Bewusstlosigkeit reichte. Man lernte schnell, dass man dieses Gebäude nicht verlassen konnte.
Durch die Tür war damals auch Peter Neuer gekommen. Wie von selbst hatte sie sich für ihn und seinen metallenen Wärter geöffnet und ihn hinein gebeten. Vorbei an zahlreichen Zellen bis hoch in den dritten Stock, den er seitdem nicht mehr verlassen hatte. Für ihn war es nicht der erste Gesetzesverstoß gewesen, der ihn in die ‚Haftanstalt I – Berlin & Brandenburg‘ gebracht hatte, auch nicht der dritte oder vierte. Allerdings der erste, der schiefgegangen war. Er war ein Mann der Tat, der genau planen und sich auch an Pläne halten konnte. Wenn man das von all seinen Kollegen hätte behaupten können, würde er sein Dasein heute noch auf freiem Fuß verbringen. Er hatte im Laufe der Wochen und Monate hier einige seiner alten Mitstreiter an seiner Zelle vorbeigehen sehen. Manche offensichtlich protestierend, andere mit ernster Miene und in Gedanken versunken. Keiner von ihnen hatte nach links oder rechts gesehen und ihn bemerkt – hören konnten sie ihn nicht. Der Durchgang mochte durchsichtig sein, doch er schottete die Zelle gegen Geräusche von draußen ab. 15 Jahre hatte er für die Sache bei Sony bekommen, von denen er noch mehr als 13 hier abzusitzen hatte.
Er war erfüllt von Wut. Wut auf Lisa-Marie, die alles versaut hatte, Wut auf seinen Bruder, der ihn im Stich gelassen hatte und vor allem Wut auf seine Auftraggeber, die ihn einfach hier sitzen ließen. Als er gesehen hatte, wie Lisa-Marie an seiner Zelle vorbeigeführt wurde, wäre er ihr für einen Augenblick am liebsten an die Gurgel gesprungen. Der Stromschlag war noch stärker gewesen als beim ersten Mal und hatte ihm für eine knappe Stunde das Bewusstsein geraubt. Seitdem war er nach außen hin ganz ruhig. Der Feuerball aus Wut in seinen Eingeweiden durfte nicht zu sehr sein Handeln bestimmen. Nachdenklich spielte er mit dem kleinen Silberkreuz um seinen Hals. Seine Zeit würde kommen wenn er hier wieder raus war. Bis dahin hatte er jede Menge Zeit, Pläne zu schmieden und die nächsten Coups zu planen. Er musste seine Reputation wiederherstellen. Ohne Crew ging es nicht, doch er würde neue Leute brauchen, auf die Alten konnte er sich jetzt nicht mehr verlassen.
Die ersten Wochen hatte er noch Hoffnung gehabt, allein hier raus zu kommen. Doch die Zelle gab nichts her, was ihm einen Ausbruch ermöglicht hätte. Er hatte versucht, den Wärter auseinanderzunehmen, um über dessen Elektronik und Platinen einen Weg zu finden, durch seine Zellentür zu kommen. Doch egal wie oft er ihn gegen die Wand geschlagen hatte, oder wie stark er auf ihn gesprungen war, die silberne Außenhülle mit den zwei dunkelblauen Streifen vom Kopf hinunter bis zu den Füßen hatte sich nicht merklich verändert. Ebenso wenig wie der Wärter auf diese Ausbrüche reagiert hatte. Die Streifen an der Seite waren ein wenig verkratzt und offensichtlich hatte er eins der Armgelenke des Wärters ein wenig lädiert. Seitdem sahen die Bewegungen des linken Arms nicht mehr ganz so flüssig aus, doch geholfen hatte das Peter nicht im geringsten. Es gab hier nichts, wo er ansetzen konnte, so hatte er sich darauf beschränkt, seinem Geist freien Lauf zu lassen.
Er hatte irgendwann aus einer Laune heraus angefangen, den Wärter ‚Fluffy‘ zu nennen, wie den Hund, den er als Junge gehabt hatte. Statt Stöckchen holte der Roboter eben Essen und er befolgte ebenso artig seine Kommandos, wie es Fluffy früher getan hatte. Auch wenn er nicht ‚Sitz‘ und ‚Platz‘ machen konnte, sondern nur sagen, wie viel Uhr es war und welchen Wochentag sie gerade hatten.
Peter saß da, starrte von seiner Pritsche aus die Wand an und dachte an Lisa-Marie. Ihre wunderschönen, fein geschwungenen Lippen, die mandelbraunen Augen. Er hatte sich von ihrem Aussehen und seinen Gefühlen zu ihr schwächen lassen und sich Fehler erlaubt. Er durfte keine Fehler machen. Letzten Endes trug auch er Schuld daran, dass er jetzt hier saß.
Fluffy betrat die Zelle. In seinen Händen hielt er eine Schüssel mit Tomatensuppe, die er neben Peters Pritsche abstellte. Ihm fielen die Veränderungen nicht gleich auf. Die Bewegung des Abstellens war flüssiger als sonst, als wäre der Arm nach so vielen Monaten heute in Fluffys kurzer Abwesenheit doch noch repariert worden. Auch die Streifen waren wieder vollkommen intakt. Hätte er Fluffys Rücken unter der Uniform betrachtet, hätte er eine ungewöhnliche Schweißnaht sehen können. Statt sich wie sonst während der Essenszeit in eine Ecke der Zelle zu stellen, blieb der Roboter diesmal vor Peters Pritsche stehen. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm dieser Umstand bewusst wurde. Dann fiel sein Blick auf den kleinen weißen Zettel, den der Roboter in der ausgestreckten Hand hielt.

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